Was hinter Binge Eating steckt
Essen, das kann ein Trost sein, bei Stress, Ärger oder Streit. Aber sogenannte Binge Eater können einfach nicht mehr aufhören, Nahrung in sich hineinzustopfen - bis sie sich ganz elend fühlen. ICH verrate, was hinter Binge Eating steckt.
Binge-Eating (Esssucht)
ist eine psychische Störung, die sich in immer wiederkehrenden Essattacken äußert. Betroffene haben keine Kontrolle über ihr Essverhalten und verschlingen enorme Nahrungsmengen. Meist sind sie übergewichtig, und ihr Selbstwertgefühl ist gering. Obwohl Binge-Eating die häufigste Essstörung in der Bevölkerung ist, hat die Erforschung der Krankheit erst begonnen. Hier lesen Sie alles Wichtige zum Thema Binge-Eating.
Binge-Eating: Beschreibung
Menschen mit Esssucht (Binge-Eating-Störung oder englisch: "binge-eating-disorder") werden regelmäßig von "Fressattacken" heimgesucht. Als seien sie süchtig nach Essen, verschlingen sie wahllos Nahrungsmittel in enormen Mengen. Das Gelage (englisch "binge") dauert mitunter Stunden. Genuss, Hunger oder Sättigung spielen dabei keine Rolle. Charakteristisch für die Binge-Eating-Störung ist, dass die Betroffenen den Essanfall nicht kontrollieren können. Sie hören oft erst auf, wenn ihnen schlecht wird und der Bauch schmerzt. Die Essattacken finden meist statt, wenn die Betroffenen alleine sind. Nach dem anfallsartigen Essen empfinden die Esssüchtigen Scham-, Schuld- und Ekelgefühle.
Anders als Bulimie-Kranke (Ess-Brech-Süchtige) versuchen Esssüchtige nicht, die aufgenommenen Kalorien durch Erbrechen, Medikamente oder exzessiven Sport wieder auszugleichen. Deshalb sind die meisten Esssüchtigen übergewichtig. Allerdings können auch normalgewichtige Menschen regelmäßig Fressanfälle haben.
Kennzeichnend für die Binge-Eating Störung ist außerdem, dass die Betroffenen zwischen Essanfällen sehr unregelmäßig essen und immer wieder längere Zeit Diät halten, bis sie der nächste Fressanfall überkommt. Esssüchtige beschäftigen sich viel mit ihrer Figur und ihrem Gewicht, allerdings nicht so extrem wie Magersüchtige oder Bulimiker.
Wer ist von Binge-Eating betroffen?
Eine Binge-Eating-Störung tritt typischerweise später als eine Magersucht oder Bulimie auf. Es erkranken daran überwiegend junge Erwachsene oder Menschen in der Lebensmitte. Allerdings können auch Kinder schon Essanfälle haben. Das Vollbild "Binge-Eating" ist im Kindesalter allerdings sehr selten.
1994 wurde die Binge-Eating-Störung erstmals als eigenständiges Krankheitsbild im amerikanischen Klassifikationssystem psychiatrischer Störungen (DSM-IV) beschrieben. Sie ist noch deutlich weniger erforscht als die Bulimie oder Magersucht. Deshalb weiß man auch nicht genau, wie viele Esssüchtige es gibt. Experten schätzen jedoch, dass rund ein bis vier Prozent der Bevölkerung betroffen sind. Damit ist die Binge-Eating-Störung erheblich verbreiteter als andere Essstörungen.
Frauen und Männer sind etwa gleichermaßen von der Essstörung betroffen. Im Gegensatz zur Bulimie und Magersucht ist die Differenz zwischen den Geschlechtern damit deutlich geringer.
Binge-Eating: Symptome
Für die Diagnose Binge-Eating muss das anfallartige Essen mindestens einmal die Woche über einen Zeitraum von drei Monaten auftreten.
Diagnosekriterien der Binge-Eating-Störung
Folgende Kriterien müssen nach dem aktuellen Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-V) für die Diagnose Binge-Eating zutreffen:
A) Wiederholte Episoden von Essanfällen
B) Die Episoden von Essanfällen treten gemeinsam mit mindestens drei der folgenden Symptome auf:
- Wesentlich schneller essen als normal
- Essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl
- Essen großer Nahrungsmengen, wenn man sich körperlich nicht hungrig fühlt
- Alleine essen aus Verlegenheit über die Menge, die man verzehrt
- Ekelgefühle gegenüber sich selbst, Deprimiertheit oder große Schuldgefühle nach dem übermäßigen Essen
C) Es besteht ein deutlicher Leidensdruck aufgrund der Essanfälle.
D) Die Essanfälle treten im Durchschnitt an mindestens einem Tag pro Woche über drei Monate auf.
E) Die Essanfälle gehen nicht mit dem regelmäßigen Einsatz von unangemessenen kompensatorischen Verhaltenweisen einher (z. B. absichtliches Erbrechen, Fasten oder exzessive körperliche Betätigung) sie treten nicht ausschließlich im Verlauf einer Anorexia nervosa (Magersucht) oder Bulimia nervosa (Bulimie) auf.
Abgrenzung des Binge-Eating zur Bulimie und Fettsucht
Im Unterschied zur Bulimie ergreifen Esssüchtige in der Regel keine gegensteuernden Maßnahmen, um die Kalorien, die sie aufgenommen haben, wieder auszugleichen. Die Nahrung wird demnach nicht regelmäßig erbrochen, und es werden auch keine Abführmittel oder exzessive sportliche Betätigung zur Gewichtsreduktion eingesetzt. Der Body-Mass-Index (BMI) ist deshalb oft höher als bei Menschen mit Bulimie.
Binge-Eating geht fast immer mit Adipositas (Fettleibigkeit, Fettsucht) einher – denn häufige Fressanfälle können naturgemäß das Gewicht entgleisen lassen und so eine Ursache starken Übergewichts sein. Allerdings sind längst nicht alle Fettleibigen esssüchtig. Während sich die Diagnose Adipositas laut Definition alleine auf den Body-Mass-Index und damit auf ein zu hohes Gewicht bezieht, ist Binge-Eating eine psychische Störung.
Esssüchtige sind zudem unzufriedener mit ihrem Körper und haben ein geringeres Selbstwertgefühl als Menschen, die lediglich stark übergewichtig sind. Weitere Unterschiede sind die wiederkehrenden Essanfälle bei Binge-Eating sowie ein unregelmäßigeres und chaotischeres Essverhalten als bei einer reinen Adipositas. Menschen mit Esssucht sind zudem stärker psychisch beeinträchtigt und leiden oft gleichzeitig an weiteren psychischen Störungen wie zum Beispiel Angststörungen.
Körperliche Folgen des Binge-Eating
Die häufigste Begleiterkrankung (Komorbidität) von Binge-Eating geht auf das Konto der begleitenden Adipositas. 40 Prozent der Binge-Eating-Patienten sind stark übergewichtig. Als adipös gelten Menschen mit einem Body-Mass-Index von über 30. Der BMI berechnet sich aus dem Körpergewicht dividiert durch die Körpergröße im Quadrat. Eine Frau mit einer Körpergröße von 1,68 m und einem Gewicht von 85 kg hätte somit einen BMI von 30.
Das Übergewicht hat einen großen Einfluss auf die körperliche Gesundheit. Es beeinträchtigt in erster Linie das Herz-Kreislauf-System. Mögliche Störungen sind Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte und Arteriosklerose (Arterienverkalkung). Dadurch steigt die Gefahr von Herzinfarkt und Schlaganfall. Eine weitere mögliche Folge von Übergewicht ist Herzschwäche (Herzinsuffizienz). Die Patienten verlieren ihre Leistungsfähigkeit und werden kurzatmig. Außerdem können sich Wassereinlagerungen im Gewebe (Ödeme) bilden. Diabetes ist eine weitere häufige Folge von Adipositas.
Das erhöhte Gewicht schädigt zudem Gelenke und Wirbelsäule. Vor allem die Knie- und Hüftgelenke sowie die Bandscheiben leiden unter der Belastung. Bei starkem Übergewicht treten auch Atem- und Schlafstörungen auf.
Binge-Eating: Untersuchungen und Diagnose
Da die charakteristischen Fressgelage meistens heimlich stattfinden, ist die Esssucht für Außenstehende schwer zu erkennen. Wie bei den anderen psychischen Störungen auch, erhöht eine frühe Diagnose der Esssucht die Chancen einer schnellen Heilung. Daher ist es wichtig, dass sich Menschen mit Binge-Eating Hilfe suchen, wenn sie Symptome der Esssucht bei sich feststellen.
Erster Ansprechpartner kann der Hausarzt sein. Dieser versucht in einem Erstgespräch zur Erhebung der Krankengeschichte (Anamnese) herauszufinden, ob tatsächlich eine Esssucht vorliegt. Folgende Fragen könnte Ihnen der Hausarzt dazu stellen:
- Haben Sie Essanfälle, bei denen Sie das Gefühl haben, Sie können mit dem Essen gar nicht mehr aufhören?
- Essen Sie während der Essanfälle schneller als sonst?
- Wann hören Sie mit dem Essen wieder auf?
- Wie fühlen Sie sich während diese Essanfälle und hinterher?
- Wie häufig treten diese Essanfälle auf?
- Erbrechen Sie die aufgenommene Nahrung wieder?
- Nehmen Sie Abführmittel, um Ihr Gewicht zu reduzieren?
- Sind Sie zufrieden mit sich und mit Ihrem Körper?
Körperliche Untersuchung
Der Hausarzt wird Sie zudem körperlich untersuchen. So kann er herausfinden, ob es körperliche Esssucht-Ursachen gibt. Es gibt zum Beispiel einen meist gutartigen Tumor der Bauchspeicheldrüse, der durch eine Überproduktion von Insulin zur Unterzuckerung und damit zu Heißhungerattacken führt. Diese sehr seltene Erkrankung nennt sich Insulinom.
Weiter kann der Hausarzt feststellen, ob Folgeschäden aufgrund der Binge-Eating-Störung vorliegen. Er wird Ihren BMI berechnen und Ihr Blut untersuchen (z.B. Messung von Blutzucker, Blutfettwerten und Harnsäure).
Wenn Sie übergewichtig sind, ist auch eine Überprüfung Ihres Herz-Kreislauf-Systems mittels Elektrokardiografie (EKG) sinnvoll. Bei Hinweisen auf eine Störung kann ein Facharzt weitere Untersuchungen durchführen.
Psychologische Untersuchung
Bestätigt sich der Verdacht einer Binge-Eating-Störung, so wird der Hausarzt Sie an eine Fachklinik oder einen ambulanten Psychotherapeuten oder Psychiater überweisen. Der Facharzt oder Psychologe kann durch ein strukturiertes klinisches Interview eine genaue Diagnose stellen. Er kann außerdem feststellen, ob bei Ihnen noch weitere psychische Störungen vorliegen.
Als Esssucht-Test wird in Kliniken gerne der "Eating Disorder Examination"-Test (EDE) von Fairburn und Cooper eingesetzt. Dieser Fragebogen orientiert sich an den Kriterien des DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) und hat sich als sehr zuverlässiges Diagnoseinstrument erwiesen. Er erfasst unter anderem die folgenden Themen:
- Gezügeltes Essverhalten
- Gedankliche Beschäftigung mit dem Essen
- Sorgen um das Gewicht
- Sorgen um die Figur
Es gibt auch Selbstbeurteilungsfragebögen als Binge-Eating-Test, die sowohl im Internet zu finden sind als auch teilweise von Ärzten und Psychologen genutzt werden. Die Übereinstimmung dieser Fragebögen mit den klinischen Diagnoseinstrumenten ist jedoch eher gering. Sie sind daher kein Ersatz.
Die therapeutischen Methoden
Zur Behandlung von Binge-Eating hat man lange Zeit die gleichen therapeutischen Methoden wie zur Therapie von Bulimie eingesetzt. Sie sind zwar wirksam, da aber Binge-Eating eine eigenständige psychische Störung ist, wurden in den letzten Jahren spezielle Behandlungskonzepte erstellt. Ärzte und Psychologen erhoffen sich dadurch noch höhere Erfolgsquoten der Behandlung. Die Schwerpunkte der Esssucht-Therapie sind unter anderem:
- den Betroffenen über das Krankheitsbild aufzuklären und zu informieren
- die Ernährungsgewohnheiten zu verändern
- körperliche Bewegung in den Alltag zu bringen
- das negative Denken in Bezug auf den eigenen Körper zu verändern und das Selbstwertgefühl zu steigern
- Strategien zur Rückfallprophylaxe für zu Hause erlernen
Medikamentöse Behandlung
Leidet der Patient zusätzlich an einer affektiven Störung, zum Beispiel einer Depression, wird diese mitunter zuerst behandelt. Denn ein Patient, der an einer schweren Depression leidet, ist nicht in der Lage, aktiv an der Überwindung der Essstörung zu arbeiten.
Eine antidepressive Wirkung haben Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Sie erhöhen die Konzentration des Neurotransmitters Serotonin im Gehirn, der antriebssteigernd wirkt. SSRIs reduzieren auch kurzfristig die Häufigkeit der Essanfälle. Da die Gefahr eines Rückfalls mit dem Absetzen der Medikamente sehr hoch ist, empfiehlt sich eine Kombination aus psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung.
Binge-Eating: Krankheitsverlauf und Prognose
Die Binge-Eating-Störung verläuft oft in Phasen. Manche Esssüchtige können über mehrere Wochen fast normal essen, dann kehren die Fressattacken zurück. Langfristig bekommen die wenigsten Betroffenen Binge-Eating ohne professionelle Unterstützung aus eigener Kraft in den Griff.
Da die Binge-Eating-Störung erst seit Kurzem als eigenständige psychische Störung anerkannt ist, gibt es zum Verlauf und der Prognose bisher nur wenige Studien. Untersuchungen haben gezeigt, dass der Krankheitsverlauf kurzfristig günstiger ist als bei der Bulimie, insbesondere aber deutlich besser als bei der Anorexie. Ein Jahr nach Ende der Therapie geht es zwischen 30 und 79 Prozent der Patienten deutlich besser, zeigen Untersuchungen.
Experten schätzen, dass etwa 70 Prozent der Betroffenen die Esssucht nach zwölf Jahren überwunden haben. Die Rückfallquote liegt nach diesem Zeitraum bei etwa sechs bis acht Prozent. Circa 25 Prozent leiden allerdings nach zwölf Jahren noch unter affektiven Störungen und Angststörungen, neun Prozent betreiben Substanzmissbrauch, beispielsweise konsumieren sie übermäßig Alkohol. Die Prognose im Einzelfall hängt davon ab, wie ausgeprägt die Esssucht ist. Werden Binge-Eating und eventuelle Begleiterkrankungen aber frühzeitig und professionell behandelt, stehen die Heilungschancen gut.